Überlegungen zur Deutung eines neu entdeckten Reliefs an der Flechtdorfer Klosterkirche.
Überlegungen zur Deutung eines neu entdeckten Reliefs an der Flechtdorfer Klosterkirche.
An der Außenwand des Ostchores der Flechtdorfer Klosterkirche befindet sich im oberen Teil, für das bloße Auge kaum sichtbar, ein kleines Steinrelief. Es handelt sich dabei um eine "Spolie", das heißt um ein übriggebliebenes Bauteil, das in älterer Zeit seinen Platz an einer anderen Stelle hatte.
Das Relief zeigt in der Mitte die Halbfigur eines bärtigen Mannes, der mit geschlossenen Augen und über der Brust gekreuzten Armen von zwei Fabelwesen mit Vogelköpfen und Schlangenleib am Kopf attackiert wird. Stil und Art der Ausführung des Bildnisses verweisen auf die romanisch- hochmittelalterliche Entstehungszeit der Kirche im 12. Jahrhundert. Der heutige Ostabschluss der Kirche wurde in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts neu errichtet, nachdem der ursprüngliche Ostchor der Kirche, das so genannte Oratorium der Mönche, einem Brand zum Opfer gefallen, eingestürzt und niedergelegt war. Bei dieser Gelegenheit wurde das Relief, das vermutlich aus dem Ostchor der Kirche oder dem Ostflügel des ehemaligen Konventsgebäude stammt, hier eingemauert. Sein ursprünglicher Platz könnte als Kapitellornament an einer Säule oder als Schlussstein im Gewölbe des Chores gedient haben.
Die Frage nach der Bedeutung des Bildes kann derzeit sicher noch nicht endgültig beantwortet werden. Einiges kann man aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zur Symbolik in der romanischen Baukunst erschließen. Danach kann man festhalten, dass die vom Figurenaufbau her dreigliedrige (triadische) Darstellung schon in vorchristlicher Zeit üblich war und grundsätzlich ein Gegenüber von Gut und Böse beinhaltet. Dämonische Bestien und tierische Mischwesen treten auf als Repräsentanten des Bösen, des Teufels und des Todes. In der Mitte erscheint meist eine Art Bezwinger oder Held. In der christlichen Umdeutung ist die Mitte der Trias häufig Christus vorbehalten, der als Heils- und Friedensbringer Tod und Teufel besiegt.
In einer Klosterkirche mag die Bilddeutung und Symbolik eher im Mönchsleben zu suchen sein, und dafür spricht im Flechtdorfer Relief einiges. Die männliche Halbfigur mit Bart lässt in ihrer Haltung an einen gottergebenen Mönch denken, der den dämonischen Einflüsterungen mit den Mitteln der Frömmigkeit und des Gebets begegnet. Darauf weisen die geschlossenen Augen und die über der Brust gekreuzten Arme hin. Beim Ritus der benediktinischen Profess, den feierlichen Gelübden, kreuzt der Novize die Arme vor der Brust und gelobt Gehorsam, Ortsbeständigkeit und klösterlichen Lebenswandel. Eine solche Darstellung im Mönchschor der Flechtdorfer Kirche hätte so eine doppelte Bedeutung: Einerseits Erinnerung an das abgegebene Versprechen eines klösterlichen Lebenswandels zum anderen Mahnung, dass im Alltag des Mönchslebens auch immer Anfechtungen und Versuchungen lauern. Versuchung und Gottergebenheit wären so die leitenden Motive des Bildnisses. Was bei der Suche nach motivähnlichen und gleichen Darstellungen auffällt, ist die Tatsache, dass meist die in Versuchung und Bedrängnis geführte Figur sich sehr kämpferisch gibt und ihrerseits mit körperlichem Einsatz die Dämonen abwehrt. Die Flechtdorfer Darstellung, auf die Versuchung mit gläubiger Gelassenheit zu reagieren, ist wohl sehr selten, wenn nicht sogar einmalig.
Das Motiv der Versuchung und ihrer Bewältigung verweist auf eine konkrete historische Gestalt, den hl. „Mönchsvater“ Antonius, der im 4. Jahrhundert als Eremit in der ägyptischen Wüste lebte. Von ihm weiß die Überlieferung vor allem zu berichten, dass er immer wieder von teuflischen Dämonen bedrängt wurde, die versuchten ihn vom Weg der Enthaltsamkeit und eines gottergebenen Lebens abzubringen. Wegen seines tugendhaften Widerstandes gegen alle Versuchungen wurde er berühmt und schon zu Lebzeiten als Wundertäter und Mann Gottes verehrt. Das Thema der Versuchung und Peinigung des hl. Antonius durch dämonische Bestien ist seit mehr als tausend Jahren ein Standardmotiv in der bildenden Kunst Europas. Noch heute inspiriert das Thema Versuchung besonders die vom Surrealismus beeinflusste zeitgenössische Kunst.
Auch in der Bibel ist Versuchung ein häufig auftauchendes Motiv. Jesus selbst wird nach den Evangelien in der Wüste Opfer satanischer Versuchungen und zugleich deren Überwinder. Eine besondere Versuchungssituation wird in der Ölbergszene geschildert, als er im Angesicht seines Leidens von Angst und Verzweiflung überwältigt seinen Vater um den Vorübergang des Todeskelches bittet. Gegen die neutestamentliche auf Christus bezogene Deutung des Flechtdorfer Reliefs spricht, dass die Figur in der Mitte nicht den in der Romanik üblichen hoheitlichen Christusdarstellungen entspricht. So fehlt z. B. der Nimbus (Heiligenschein) mit Kreuz, der Christus als Gottmenschen kennzeichnet.
Das Flechtdorfer „Versuchungsrelief“ lässt wie sein Parallelstück aus der Gründungszeit der Benediktinerabtei, der „Drache“ im Inneren der Kirche noch viele Möglichkeiten der Deutung offen. Die Bauhandwerker des 17. Jahrhunderts, die aus den Resten des zerstörten Ostchores die neue Abschlusswand aufführten, waren offensichtlich sehr beeindruckt und gaben dem Bildnis einen prominenten Platz zwischen einem Fenstersturz und einem Stützbogen. Auf diese Weise ist es erhalten geblieben und die Besucher und Freunde der Flechtdorfer Klosteranlage finden eine weitere Attraktion vor, die sie am besten mit Fernglas oder Teleobjektiv betrachten können. Nicht weit von dieser Spolie entfernt befindet sich in der Hofmauer in Fortsetzung der Kirchennordwand der Rest einer gotischen Sakramentsnische. Beide Spolien können die Fantasie der Besucher anregen darüber nachzudenken, was es noch alles im Bodenbereich des ehemaligen Ostchores zu entdecken gäbe, falls man sich zu einer archäologischen Erkundung entschließen könnte.
Karl Baus,
6. Mai 2008