Auszug aus dem Untersuchungsbericht des Freien Instituts für Bauforschung und Dokumentation, Marburg zum Erdgeschoss des Abtshauses.
Welche Funktion nun hatte dieses Gebäude? Bezogen auf die Kirche und die übrigen Klostergebäude liegt es ein wenig außerhalb des eigentlichen Klausurgeviertes und öffnet sich nach außen hin zur „Feldseite“ durch ein relativ monumentales Portal wobei diese „Schauseite“ obendrein noch durch ein der gleichzeitig gebauten Basilika nachempfundenes Sockelgesims sowie durch die ausschließliche Verwendung von Kalksteinquadern hervorgehoben ist. Andererseits öffnet sich dieser im Grundriss rechteckige Baukörper auch durch ein Portal nach Norden, zum Vorfeld der Klausur hin sowie durch einen die gesamte Breite einnehmenden Bogen nach Osten zu den Klausurgebäuden. Es ist also im weitesten Sinne als „Verkehrsbau“ zu interpretieren, der die Klausur in verschiedene Richtungen erschließt, mithin also sicherlich eine Art Torhaus. Dabei ist festzuhalten, dass an dieses Torhaus, soweit bisher erkennbar, nicht unmittelbar Klausurmauern angeschlossen haben, zumindest deren Ausbruchspuren nicht sichtbar sind. Dies könnte bedeuten, dass eine Klausurmauer erst später errichtet wurde und zunächst die Einfriedung des Klosterbezirkes durch einen Zaun oder eine Palisade erfolgte.
Auf jeden Fall handelt es sich um einen freistehenden Torbau wobei unklar bleiben wird, ob er ursprünglich, wie heute, lediglich zwei Geschosse hoch war oder mit einem weiteren, dritten Obergeschoss als „Torturm“ zu rekonstruieren ist. Die Schwierigkeit, ein solches Gebäude typologisch in die Klosterarchitektur des 11./12. Jahrhundert einzuordnen liegt letztendlich daran, dass zumindest in zusammenfassenden Publikationen solche Tore zwar immer erwähnt werden, diese aber bezüglich ihres Architekturtypus entweder aus der 1. Hälfte 12. Jahrhunderts nicht erhalten sind oder in der wissenschaftlichen Literatur nicht bearbeitet wurden. Insofern stellt der hier herauskristallisierte Bau innerhalb der klösterlichen Architektur des 12. Jahrhunderts durchaus eine Sensation dar.
Für die Rekonstruktion der ursprünglichen Funktion des Obergeschosses liefert lediglich der nach Norden gelegene Hocheingang einen Hinweis: Es war, wie dies auch bei vielen anderen mittelalterlichen Profanbauten, Klöstern, städtischen Wohnhäusern, aber auch Palastbauten auf Burgen der Fall ist, durch eine Außentreppe zu erschließen. Die Tatsache, dass dieser Raum nach Osten nicht durch eine Mauer abgeschlossen sondern dort „offen“ war, bedeutet jedoch nicht, dass es sich hierbei um einen sogenannten Schalenturm handelt, wie sie dann später, vornehmlich ab der Mitte des 13. Jhdts. sowohl bei Stadtbefestigungstürmen als auch auf Burgen bis in das Spätmittelalter gang und gäbe sind. Am ehesten noch ist davon auszugehen, dass sich hier eine Fachwerkkonstruktion befand, die den Obergeschossraum nach Osten hin abgeschlossen hat. Diese Art von „Mischkonstruktion“ wiederum steht durchaus in der Tradition von mittelalterlichen steinernen Wohnbauten des 12. und 13. Jahrhunderts, bei denen insbesondere die straßenseitigen Fassaden durch solche dann aber in der Regel geschossweise vorkragende Fachwerkfassaden gebildet wurden. Egal, ob das Gebäude turmartig zu rekonstruieren ist oder wir im aktuellen Bestand seine ursprüngliche Kubatur vor uns haben, als Dach ist für die Mitte des 12. Jahrhunderts ein Satteldach denkbar, dessen Neigung um oder unter 45° liegt, wie Vergleichsbeispiele von Dachkonstruktionen sowohl auf Profanbauten der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts als auch insbesondere die aus dieser Zeit in größerer Anzahl erhaltenen Kirchendachwerke zeigen.
Bezüglich der Datierung dieses Baues wurde bereits angedeutet, dass sowohl der abgefaste Sockel als auch die mittelformatigen fischgrätig oder diagonal geflächten Kalksteinquader ebenso wie das wechselnde Schichtmauerwerk an der Süd- und Nordseite sowohl vergleichbar sind mit der ältesten Ausbauphase der Basilika (Sockel an der Nordseite) als auch identisch ist mit den ältesten Bauphasen des westlichen Klosterwestflügels, der aufgrund der stratigraphischen Einbindung seines Mauerwerkes in dasjenige der Kirche gleichzusetzen ist mit deren ältesten Bauphase. Insofern dürfte eine Datierung des Torbaues in das 2. Viertel oder die Mitte des 12. Jahrhunderts durchaus zutreffend sein.
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